Das politische System der Schweiz

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Direkte Demokratie in der Schweiz

Der Begriff Demokratie kommt aus der griechischen Sprache und bedeutet "Herrschaft des Volkes". Als Direkte Demokratie wird - im Gegensatz zu der in vielen anderen Staaten der Welt üblichen Parlamentarischen Demokratie - die in der Schweiz heimische Variante der Demokratie bezeichnet, bei der das Volk nicht nur über Wahlen, sondern durch häufige Volksabstimmungen direkten Einfluss auf die Politik nehmen kann.

Demokratien in der Antike: Athen und Rom
Entstehung und Grundzüge der modernen Demokratie
Der lange Weg zum Schweizerischen Bundesstaat


Die Gliederung des Schweizerischen Bundesstaates

Die heute gültige Struktur und Organisation des Schweizerischen Bundesstaates geht auf die Bundesverfassung von 1848 zurück. Damals wurde der Wechsel vom lockeren Staatenbund der Alten Eidgenossenschaft zum modernen Bundesstaat vollzogen. Die moderne Schweiz besteht aus 20 Kantonen und 6 Halbkantonen unterschiedlichster Ausdehnung (zwischen 37 und 7'105 km²), Bevölkerungszahl (zwischen rund 15'000 und 1'200'000), Bevölkerungsdichte (zwischen rund 25 und 5'000 Personen pro km²) und Wirtschaftsstruktur.


Weitgehende Autonomie der Kantone und Gemeinden

Jeder Kanton bzw. Halbkanton hat eine eigene Verfassung, eine eigene Regierung, ein eigenes Parlament und eigene Gerichte und eigene Polizei. Daraus resultiert zwangsläufig eine Vielzahl unterschiedlicher Rechtsnormen, die häufiger durch Konkordate [Absprachen] zwischen den Kantonen als durch Bundesgesetze notdürftig soweit einander angeglichen werden, dass der Wirtschaftsraum Schweiz einigermassen funktionieren kann. Weil die Kantone soviel Gestaltungsspielraum haben, ist bei vielen Vergleichen mit dem Ausland die einzig wirklich korrekte Antwort auf die Frage "und wie ist das in der Schweiz?" das beinahe schon geflügelte Wort "in jedem Kanton wieder anders". Fast noch grösser sind die Unterschiede zwischen den knapp 3000 Gemeinden. Trotzdem kann man damit leben - sogar recht gut.



Volksabstimmungen

Das wohl am meisten hervorstechende Merkmal der direkten Demokratie sind die häufigen, mehrmals jährlichen stattfindenden Volksabstimmungen über Gesetze, Sachfragen und auf Gemeindeebene auch über das Budget [Haushalts-Voranschlag]. An einem Abstimmungswochenende können ohne weiteres insgesamt mehr als zehn Fragen auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene anstehen. Eine grosse Zahl von ehrenamtlichen, gewählten StimmenzählerInnen bewältigt die Auszählung der Stimmen in der Regel zwischen Sonntag, 12.00 Uhr (Schliessung der Wahllokale) und etwa 18 Uhr. Erste Hochrechnungen der Universität Bern sind jeweils schon ab 14 Uhr verfügbar.


Obligatorisches und Fakultatives Referendum

Durch die Bundesverfassung bzw. durch die kantonalen Verfassungen wird geregelt, welche Arten von Gesetzen und anderen Sachfragen zwingend der Volksabstimmung (obligatorisches Referendum) unterstehen, die übrigen Gesetze unterliegen dem fakultativen Referendum, d.h. innerhalb von drei Monaten nach der Verabschiedung eines Gesetzes oder einer Gesetzesänderung können 50'000 Stimmberechtigte mit ihrer Unterschrift eine Volksastimmung verlangen. Früher war das Sammeln der Unterschriften relativ einfach, man musste sich nur an einem Abstimmungswochenende vor den Stimmlokalen (Rathäuser, Schulhäuser) aufstellen und die aktiven Stimmberechtigten ansprechen. In den letzten Jahrzehnten wurde in der Schweiz nach und nach die schriftliche Stimmabgabe per Post eingeführt, um die eher mässige Stimmbeteiligung (durchschnittlich rund 40 %) trotz geändertem Freizeitverhalten nicht allzu sehr einbrechen zu lassen. Seither ist die Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten im Stimmlokal ebenso selten geworden wie der früher weit verbreitete sonntägliche Kirchgang. Somit gelten muss sich auch jedes Referendumskommittee etwas mehr Marketing einfallen lassen und auch etwas tiefer in die Portokasse greifen.


Kompromiss und Konkordanz

Da in der direkten Demokratie Gesetze durch das Volk mittels Referendum zu Fall gebracht werden können, lohnt es sich, frühzeitig breite Unterstützung zu sichern. Dazu gehört natürlich auch, Kompromisse einzugehen und gegenseitig Rücksicht zu nehmen. Man spricht deshalb auch von Konkordanz bzw. Konkordanzdemokratie [lateinisch concordare = "ein Herz und eine Seele sein", übereinstimmen]. Da dies in der direkten Demokratie immer unter der Kontrolle der gesamten Wählerschaft geschieht, hat die Konkordanz ganz eindeutig nicht den Charakter der gegenseitigen Begünstigung der Parteien, sondern stellt das Gemeinwohl in den Vordergrund. Die Konkordanzdemokratie stellt somit einen - recht erfolgreichen - Versuch dar, die Idee des Genfer Philosophen Jean Jacques Rousseau von der volonté générale [französich: allgemeiner Wille] praktisch umzusetzen.



Die Volksinitiative

100'000 Stimmberechtigte können auch per Unterschrift eine Verfassungsänderung auf Bundesebene fordern, auf Kantonsebene gelten entsprechend geringere Quoten. Über jede Volksinitiative muss abgestimmt werden, auch wenn Parlament und Regierung daran wenig Gefallen finden. Allerdings kann das Parlament dem Volk mit der Volksinitiative gleichzeitig einen (moderateren) Gegenvorschlag zur Abstimmung vorlegen. Die Volksinitiative ist ein beliebtes Instrument, um das Parlament politisch unter Druck zu setzen. Im Gegensatz zu Gesetzesvorlagen gelten Verfassungsänderungen auf Bundesebene nur dann als angenommen, wenn nebst der Mehrheit der landesweit gültigen Stimmen auch eine Mehrheit der Kantone (auch Stände genannt) zustimmt. Die meisten Volksinitiativen scheitern in der Volksabstimmung, wenn nicht am Volksmehr, dann doch am Ständemehr, das einenoch höheren Hürde darstellt.

Dennoch gibt es einige wesentliche politische Veränderungen, die über das Instrument der Volksinitiative herbeigeführt wurden, so z.B. die staatliche Rentenversicherung (Alters- und Hinterlassenen-Vorsorge AHV) oder das Proporzwahlrecht (allerdings erst im dritten Anlauf!). Damit ist die Sache allerdings noch nicht gewonnen, denn Verfassungsrecht ist in der Schweiz - mit Ausnahme der beim europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einklagbaren Grundrechte - nicht direkt einklagbar. So gibt es zwar seit 1945 einen Verfassungsartikel, der die Einführung einer Mutterschaftsversicherung [Lohnfortzahlung nach der Geburt eines Kindes] verlangt, mehrere entsprechende konkrete Gesetzesvorlagen wurden aber mit dem Referendum bekämpft und in der Volksabstimmung abgelehnt.


Bundesparlament

Die Schweiz kennt wie viele andere föderalistische Staaten [als Bundesstaat mit teilautonomen Gliedstaaten organsiert] ein zwei Parlamentskammern:


Gewaltentrennung

Wie in jeder Demokratie ist die Gewaltentrennung ganz wesentlich, bei der Direkten Demokratie ist der Gedanke der Kontrolle durch das Volk ausgeprägter, daraus ergeben sich naturgemäss stärkere Eingriffe in die Tätigkeit des Parlaments. Umgekehrt wird - dank der Möglichkeit des Gesetzesreferendums durch das Volk - darauf verzichtet, das Parlament durch ein Gericht kontrollieren zu lassen, d.h. es gibt in der Schweiz im Gegensatz etwa zu Deutschland kein Bundesverfassungsgericht. Das Bundesgericht ist heute im Wesentlichen oberste Appellationsinstanz [d.h. Entscheide kantonaler Gerichte können vor Bundesgericht angefochten werden].

Direkte Demokratie in der Schweiz: Gewaltentrennung


Kantonale Parlamente

Die kantonalen Parlamente (auch Grosser Rat genannt) bestehen nur aus einer Kammer und umfassen meist zwischen 100 und 200 Abgeordnete. Sowohl das Bundesparlament wie die kantonalen und (wo vorhanden) Gemeindeparlamente sind Milizparlamente, d.h. die Mitglieder üben ihre Funktion nebenamtlich aus. Die zeitliche Belastung ist allerdings hoch. Trotzdem ist der Milizgedanke in der Schweiz so fest verankert, dass ein Systemwechsel zu einem Berufsparlament im Moment nicht realistisch scheint. Als Argument für das Milizsystem wird vor allem die grössere Nähe zur Bevölkerung vorgebracht.


Wahlsystem: Majorz- und Proporzwahlrecht

Wahlurne Darüber, mit welchem Wahlsystem eine gerechte Vertretung des Volkes, die Auswahl der besten VolksvertreterInnen sowie stabile politische Verhältnisse gewährleistet werden können, gehen die Meinungen auseinander. Grundsätzlich gibt es zwei Wahlsysteme, die beide sowohl Vorteile als auch Nachteile aufweisen:


Besonderheiten des Proporzwahlrechts in der Schweiz

Einige Besonderheiten verfeinern das Proporzwahlrecht in der Schweiz so, dass die wesentlichen echten Vorteile des Majorzwahlrechtes gleich mit inbegriffen sind und der Wählerwille sehr differenziert zum Ausdruck gebracht werden kann. Genial daran ist, dass man sich sowohl ganz einfach für eine Partei als auch - nach langem inneren Abwägen - für einzelne besonders herausragende KandidatInnen entscheiden kann.


Listenverbindungen

Das Proporzverfahren gewährt an sich schon kleineren Parteien eine faire Chance, Sitze zu erhalten. Trotzdem muss eine Partei eine ansehnliche Stimmenzahl auf sich vereinigen, um auch im Parlament vertreten zu sein. Es ist nicht zu bestreiten, dass einerseits nach wie vor recht grosse programmatische Unterschiede zwischen der Politik der bürgerlichen Parteien (in der Schweiz: Freisinnig - Demokratische Partei FDP, Schweizerische Volkspartei SVP und Christlichdemokratische Volkspartei CVP sowie einige sehr kleine Parteien) und derjenigen der Linksparteien (Sozialdemokratische Partei SP, Grüne) bestehen, während andererseits die Unterschiede innerhalb der beiden Lager in sehr vielen Fragen nicht allzu ausgeprägt sind. Gerade in kleineren Kantonen, wo weniger als 10 Nationalratssitze zu vergeben sind, bestünde beim einfachen Proporzwahlrecht die Gefahr, dass jede Stimme für eine kleinere Partei "verloren" wäre, weil diese Partei zuwenige Stimmen für einen Sitz erhalten könnte.

Das Prinzip der Listenverbindung schafft hier Abhilfe: erreichen zwei sich nahestehende Parteien, deren Listen als verbundene Listen eingereicht werden, zusammen die nötige Stimmenzahl für wenigstens einen Sitz, so bekommt wenigstens die stärkere der beiden Parteien den Sitz zugesprochen. So sind einerseits Listenverbindungen zwischen den Sozialdemokraten und den Grünen recht häufig, während andererseits grosse Parteien mit mehreren, untereinander verbundenen Teillisten (z.B. einer Stammliste, einer Frauenliste und einer Liste der Jungpartei) antreten. Im Zusammenspiel mit weiteren schweizerischen Feinheiten wie leeren Zeilen, Streichen, Panaschieren und Kumulieren erlaubt dies eine sehr differenzierte Berücksichtigung des Wählerwillens.



Streichen

Es ist erlaubt, beliebige KandidatInnen von der Wahlliste zu streichen und damit die übrigen KandidatInnen auf dem Wahlzettel zu bevorzugen. Gestrichene (leere) Zeilen sind allerdings nicht ganz unbedeutend, weil auch sie als Stimmen für die Partei zählen, die im Kopf der Liste aufgeführt ist.



Kumulieren

Jeder Kandidat bzw. jede Kandidatin darf auf einer Liste einmal oder zweimal vorkommen. Der Fachausdruck für das Verdoppeln heisst Kumulieren [lateinisch: anhäufen]. Allerding



Panaschieren

Es ist auch möglich, einige KandidatInnen von einer anderen Liste bzw. Partei auf leere (bzw. gestrichene) Zeilen der bevorzugten Liste zu übernehmen und damit gewissermassen die Parteien auf dem Wahlzettel zu "mischen" [panaschieren].

Streichen, Kumulieren und Panaschieren können miteinander frei kombiniert werden. Dabei muss einfach beachtet werden, dass nicht mehr Namen auf dem Wahlzettel stehen, als Sitze im betreffenden Wahlkreis zu vergeben sind. Achtung: kleine Parteien setzen ihre wenigen KandidatInnen oft schon kumuliert auf die vorgedruckten Listen!

Auszählungsverfahren und Sitzzuteilung

Das Auszählungsverfahren ist mehrstufig, wobei in der Praxis, insbesondere mit Computerunterstützung, natürlich noch etwas anders vorgegangen werden kann, als hier dargestellt. Grundsätzlich gilt ein zweistufiges Verfahren mit Zwischenschritten und Feinheiten:

Scheidet ein Parlamentsmitglied während der Amtszeit aus - z.B. durch Tod oder Wohnsitzwechsel - rückt automatisch die nächstplatzierte Person der gleichen Liste nach - Ersatzwahlen erübrigen sich somit fast immer.


Ganz schön kompliziert - und doch genial einfach

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das recht komplizierte schweizerische Proporzwahlrecht



Bundesratswahlen und Zauberformel

Die Mitglieder des Bundesrates [Landesregierung] werden nicht vom Volk, sondern vom Parlament gewählt. Dazu treffen sich Nationalrat und Ständerat zu einer gemeinsamen Sitzung, die auch Vereinigte Bundesversammlung genannt wird. Im 19. Jahrhundert versuchten die Freisinnigen (FDP) vorerst auf Bundesebene allein zu regieren. Es zeigte sich aber bald, dass in einer direkten Demokratie die Entscheide von Parlament und Regierung sehr breit abgestützt sein müssen, wenn sie nicht Gefahr laufen sollen, vom Volk per Referendum "gebodigt" [schweizerdeutsch für: auf den Boden der Realität herunter geholt bzw. abgelehnt] zu werden. So versuchte man, nach und nach die Konservativen [heute: Christlichdemokratische Volkspartei CVP], die Bauern und Gewerbler [früher: Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei BGB = heutige Schweizerische Volkspartei SVP] und schliesslich die Sozialdemokraten (SP) ins Regierungsboot zu holen - mit durchschlagendem und anhaltendem Erfolg.

Seit 1959 gilt als Abbild der Sitzverteilung in der Vereinigten Bundesversammlung die so genannte Zauberformel für die Verteilung der Bundesratssitze als ungeschriebenes Gesetz: 2 FDP, 2 CVP, 2 SP, 1 SVP (entsprechend rund sieben Achteln der Parlamentssitze). In den letzten Jahren zeichnet sich ein gewissen Abrücken der Wählerschaft in den kleinen Kantonen der Zentralschweiz von der CVP zur SVP hin ab, sodass eine Revision der Zauberformel in naher Zukunft nicht mehr völlig ausgeschlossen werden kann. Zwar spielen sowohl die SVP wie auch die SP gelegentlich in Einzelfragen die Oppositionsrolle, ernsthaft in Frage gestellt wird die Zauberformel dadurch aber nicht.



Regierungsratswahlen

Die Regierungsräte [Mitglieder der Kantonsregierungen] werden in den meisten Kantonen nach dem Majorzverfahren gewählt. Trotzdem hat sich - analog zur Zauberformel in den meisten Kantonen ein freiwilliger Proporz eingebürgert, d.h. die Parteien stellen nur soviele KandidatInnen auf, wie es der Parteistärke im kantonalen Parlament entspricht. Weil Majorzwahlen in den meisten Kantonen im 1. Wahlgang eine absolute Mehrheit verlangen, werden selten alle Mitglieder der Regierung im 1. Wahlgang gewählt. Häufig kommt es zu einem kleinen Kräftemessen, bei dem grosse Parteien eine Person mehr aufstellen, als ihnen nach dem freiwilligen Proporz zustände und kleine Parteien ihr Glück mit einer Kandidatur versuchen, obwohl ihr Wähleranteil selbst nach Proporz nicht für einen Sitz ausreichen würde. Für den zweiten Wahlgang ziehen die grossen Parteien überzählige BewerberInnen zurück und kleine verzichten - oft mit einer Wahlempfehlung zugunsten einer nahestehenden Partei - auf die weitere Teilnahme. Im zweiten Wahlgang gilt dann das relative Mehr, d.h. die verbleibenden BewerberInnen mit der höchsten Stimmenzahl sind gewählt.


Literatur und Links zur Direkten Demokratie in der Schweiz und ihrer Geschichte:


© 2003 Markus Jud, Luzern
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Letztes Update: 12.10.2003

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